Alte Sitte – Moderner Tempel
Der geplante neue Ásatrú-Tempel in Reykjavík
Unter meinen Schuhen knirschen die Steine, als ich aus dem Fahrzeug steige. Die Türen von Hilmars Auto fallen ins Schloss. Warm ist es heute und ich fühle mich wie bei einem Sonntagsspaziergang im Park. Wir sind bei der Fossbucht in Reykjavík angekommen und schlendern bei strahlendem Sonnenschein einen Weg leicht bergab. Nach schon etwa einer Minute sind wir am Ort des künftigen Geschehens…
Hilmar Örn Hilmarsson - gewählter Allsherjargoði der in Island als Glaubensgemeinschaft anerkannten Ásatrúarfélagið – weist auf den Platz, an dem künftig ein Tempel errichtet werden soll, in dem Ásatrúar ihrem Glauben nachkommen können. Denn die isländische Regierung hat den verschiedenen Religionsgemeinschaften in einem in meinen Augen großartigen Akt weltanschaulicher Toleranz Grundstücke zur Ausübung ihres Glaubens abgetreten. So auch den Ásatrú. Bei der von der isländischen Regierung zur Verfügung gestellten Fläche handelt es sich um ein 2600 Quadratmeter großes Grundstück, welches auch mit dem Auto gut erreichbar ist.
Hilmar Örn Hilmarsson vor dem Grundstück, auf dem der Ásatrú-Tempel gebaut werden soll
Ásatrú ist seit 1972 eine in Island anerkannte Religion. Hilmar berichtet mir, dass dies das große Verdienst von Sveinbjörn Beinteinsson (1924 – 1993) ist, dem ersten Allsherjagoði der Neuzeit. Schon als Teenager lernte er Sveinbjörn kennen und Hilmar verband eine große Freundschaft mit diesem Mann, dem nicht nur isländische Ásatrúar viel zu verdanken haben. Denn dieser Akt der religiösen Selbstbehauptung ist beispielgebend für Ásatrúar in anderen Ländern, sich ebenfalls in ihrer Glaubensausübung staatlich legitimieren zu wollen. In einigen religiös toleranten Staaten ist dies bereits gelungen.
Ja, dem Mann sind wir alle zu tiefem Dank verpflichtet, dachte ich bei mir und erfahre eine Weile später, dass Sveinbjörn auf der anderen Seite diesen Grundstückes bereits ein großer Bautastein gesetzt wurde. Wir umrunden das Areal und stehen nun vor dem Stein, in dem eine Messingplatte mit Beinteinssons Profil eingelassen wurde. Dies ist das Werk von Páll von Húsafell, einem auf Island recht bekannten Künstler, welcher sich intensiv mit Sveinbjörns Leben und Wirken beschäftigt hat. Eingeweiht wurde dieses Denkmal im Jahr 2010 von Georg Pétur Sveinbjörnsson, dem Sohn des ersten Allsherjagoden der Ásatrúarfélagið.
Der Sveinbjörn-Beinteinsson-Bautastein in Reykjavík
Hilmar berichtet mir davon, dass sich eine größere Statue in Vorbereitung befindet, die in einem noch prächtigeren Auftritt das Lebenswerk Sveinbjörns würdigen soll. Es sind schon reichlich Spenden zusammengekommen.
Der Bau des Tempels wird sich allerdings verzögern. Denn in Island ist eine Finanzblase geplatzt, die das ganze Land erschüttert und viele Existenzen vernichtet hat. Viele Anleger (auch aus dem Ausland) vertrauten auf die Versprechungen der Banken. So entschied sich auch die Ásatrúarfélagið, das für den Bau zusammengekommene Geld gewinnbringend anzulegen. Mit verheerenden Folgen, denn der ursprüngliche Wert des angelegten Kapitals ist nach der Finanzkrise auf einen Teil zusammengeschmolzen, der es den Isländern nicht gestattet, planmäßig mit dem Bau zu beginnen. Er wird sich voraussichtlich um ein paar Jahre verschieben.
Architektenentwürfe sind bereits erstellt worden. Um sie ansehen zu können, müssen wir ein Stück durch Reykjavík in die Síðumúla Nr. 15 fahren. Dort befindet sich das aktuelle Büro der Ásatrúarfélagið, welches sich ganz unspektakulär in eine Reihe von Büros und Geschäften eingereiht hat. Auch hier überrascht mich wieder die Selbstverständlichkeit, mit der in Island mit der alten Religion umgegangen wird. Ich betrete helle, freundliche Räume, die als Versammlungsort für die wöchentlichen Zusammenkünfte dienen. Außerdem werden hier rituelle Gewänder und Kultgegenstände gelagert. Besonders beeindruckend ist für mich die große schmiedeeiserne Feuerschale. Sie ruht mit ihrem hohen Gewicht etwa in Bauchhöhe auf einem ebenfalls sehr massiven Ständer und kommt nicht nur in Sälen sondern auch unter freiem Himmel zum Einsatz. So zum Beispiel in Thingvellir, wo nach alter Sitte die Allsherjagoden in ihr Amt berufen werden. Über all dem scheint Sveinbjörn Beinteinsson zu wachen, dessen Bild hier natürlich auch nicht fehlt und dem große Ehre zuteil wird.
Hilmar zeigt mir nun ein paar Tempelentwürfe und bedient sich nebenbei aus dem Fundus der isländischen Ásatrú-Gemeinschaft, um noch an diesem Tag eine Namensgebung durchzuführen. Der Terminkalender dieses Mannes ist randvoll. Nichts für hoffnungslose Schwärmer, die davon ausgehen, dass der Allsherjagode stets in altehrwürdiger Manier hoch zu Ross die Bühne betritt. Ein enges Zeitmanagement ist in diesem Ehrenamt angesagt, automobile Fortbewegung und eine genaue Uhr. Halt einfach auf der Höhe der Zeit.